Susanne Schmid

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Die Behandlung der Schlafstörung

Nun kann niemand das Rad der Geschichte zurückdrehen und Traditionen wiederbeleben, die die heutigen Eltern gar nicht mehr wollen. Entwicklungsgeschichtliche Vorgänge sind, so der Erziehungswissenschaftler Prof. Werner Lauff von der Universität Hamburg evolutionsbedingt und daher unumkehrbar. Trotzdem müssen alle Erziehenden daran arbeiten, nicht aus althergebrachten traditionellen Gründen, sondern in voller Bewusstwerdung der Natur des Kindes, seine Welt wieder nach seinen elementaren Grundbedürfnissen zu gestalten, um ihm eine ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen. Darin liegt das Recht des Kindes auf seine Zukunft. Demnach besteht eine umfassende „Behandlung“ einer Schlafstörung in einer bewussten Neuausrichtung der Lebensumstände der betroffenen Familie und des Kindes. In dem Maße, in dem die Eltern die ihnen zustehende Führungsrolle (wieder) übernehmen und mit liebevoller Autorität für Sicherheit sorgen, indem sie ihren Kindern Regeln, Rhythmus, Ruhe, Grenzen und Halt geben und sich selber als Mittelpunkt der Familie ansehen, in dem Maße kann das Kind Geborgenheit empfinden. Dann erst fühlt es sich sicher und geliebt und kann sich einem wohltuenden Schlaf anvertrauen. Was brauchen Kinder wirklich? Wir müssen wieder ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie wir die Welt der kleinen Kinder so gestalten können, dass ihnen ein ungestörtes körperliches, seelisches und geistiges Wachstum ermöglicht wird. Dazu bedarf es einer liebevollen, halt- und Ordnung gebenden Autorität durch die Eltern, die ein Wissen über die Grundbedürfnisse haben: Die Kinder brauchen Orientierung und Sicherheit, gewonnen aus Regeln, Rhythmus, Rituale, Grenzen und Konsequenz. Sie brauchen das Erleben von Grenzen durch die Einschränkung von Raum und Zeit und bei der Erfüllung ihrer materiellen Wünsche und Pseudobedürfnisse. Sie brauchen den rechten Platz in der Familie, und dies ist für sie nicht der Mittelpunkt. Sie brauchen die Zumutung von Frustrationen und Krisen, um mit Hilfe der Eltern deren Bewältigung zu erlernen. Dazu gehört das liebevoll begleitete Durchleben aller menschlichen Gefühle, auch die des Kummers und der Trauer. Sie brauchen ihr individuelles Tempo in der Entwicklung und die Berücksichtigung der Lerngesetze. Sie brauchen Schutz vor Reizüberflutung und früher Intellektualisierung und eine gesunde und ausgewogene Ernährung.


Durchführung im Alltag
Wie können wir diese Gedanken im praktischen Alltag, der Altersstufe des Babys angemessen, umsetzen? Die Eltern sollten beherzigen, dem Kind die Vorgaben zu geben und es nicht mehr fragen, was als nächstes an der Reihe ist. Durch die Festlegung von Essens- und Schlafenszeiten – einfühlsam auf die altersbedingten Bedürfnisse des Kindes abgestimmt – können die Eltern ihre liebevolle Autorität zeigen und sich dem Kind damit spürbar machen. Das Wissen über die Rangordnung der Grundbedürfnisse – dass zum Beispiel das Bedürfnis nach Sicherheit stärker ist als das Bedürfnis nach Liebe – wird ihnen dabei den Rücken stärken und ihnen ermöglichen, ausreichende Regeln, Rhythmus und Rituale einzuführen. Dies wird nicht möglich sein, wenn sie nicht auch bereit sind, gegen den Wunsch des Kindes zu handeln und seine Tränen in Kauf zu nehmen.² Zum Erlernen von Konfliktfähigkeit und Frusttoleranz muss dem Kind im Laufe der Zeit zugemutet werden, auf die Erfüllung von Wünschen zu verzichten. Die dabei entstehenden Tränen sind dringend notwendig zur Verarbeitung des Frustes. Der Kummer sollte von den Eltern liebevoll und tröstend aufgefangen werden, ohne dass sie von ihrem Vorhaben (zum Beispiel „… ich lege dich jetzt ins Bettchen ...“) abgehen. Das Bedürfnis nach Grenzen muss im frühesten Babyalter noch auf der rein körperlichen Ebene stattfinden. Da die neugeborenen Kinder oft noch Angst vor der Weite der Welt haben, benötigen sie eine Decke oder ein Tuch, in die sie eingewickelt werden. Das gibt ihnen Sicherheit und Orientierung, nimmt die Unruhe aus den Bewegungen und hält sie gleichzeitig schön warm. Das erfüllt die wichtigsten aller Grundbedürfnisse überhaupt und verhilft dem Baby zu einem ruhigen Schlaf. Darüber hinaus kann das Leben ruhig gestaltet werden durch seltene Ortswechsel (nur ein Schlafplatz statt fünf verschiedene), extrem wenig Spielzeug, keine zusätzliche Beschallung durch den Fernseher, durch batteriebetriebene Mobiles usw. Dafür ist der »natürliche Lärm« der Geschwisterkinder immer willkommen.


Die Hilfe für das Kind
Wenn sich bei dem Baby aus den genannten Gründen eine Schlafstörung entwickelt hat, benötigt es die Bewusstheit und volle Unterstützung seiner Eltern, um wieder vertrauensvoll schlafen zu können. Das Wort Schlafenlernen finde ich hier absolut unpassend, weil das Baby das Schlafen nicht verlernt hat, sondern der Umstände wegen und aus Not nicht kann. Die Eltern müssen jetzt also die Umstände ändern und ihr Kind in der Übergangsphase begleiten. Hat ein Kind schon monatelang Erfahrungen der Desorientierung gemacht, dann ist sein Urvertrauen schon so angegriffen, dass es die neuen Vorgaben seiner Eltern nicht ohne weiteres annehmen kann und sich mit verzweifeltem Gebrüll dagegen wehrt. Da ist es wichtig, dass es sich in enger Begleitung der Eltern erst einmal tüchtig ausweint, um seine Verzweiflung, seine Verletzung, seine Trauer und Wut über die anstrengende Vergangenheit auszudrücken, denn erst danach kann es das Neue annehmen und den Eltern diesbezüglich (wieder) vertrauen. Die Übergangsphase kann einige Tage dauern, und in dieser Zeit sollte das Kind mit seinen Tränen nicht alleine bleiben. Denn die vorangegangene Orientierungslosigkeit hat das Vertrauen des Kindes bereits beeinträchtigt und durch das so oft empfohlene Alleine-weinen-Iassen kann dieser Verlust zusätzlich vertieft werden. Die Schlaftherapie nach Ferber.


Die Schlaftherapie nach Ferber – durch das Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“ weit verbreitet – ist heute fast allen Eltern und Fachleuten bekannt. Die Verfasser haben einen verhaltensorientierten Hintergrund, sie gehen davon aus, dass das Kind ein anderes erhalten erlernen muss. Nach Kast-Zahn und Morgenroth entwickelt das Kind eine Schlafstörung durch falsche Gewohnheiten, wie z. B. auf dem Arm und an der Brust einzuschlafen. Nach dem Hinlegen bemerkt das Baby in den REM-Phasen die veränderte Umgebung, sein Instinkt schlägt Alarm und es ist wieder wach. Die Schlaftherapie soll dem Kind diese falsche Angewohnheit abgewöhnen, indem die Eltern ihr Kind nun alleine im Bettchen einschlafen lassen, und in ein- bis mehrminütigen Abständen zu dem weinenden Kind gehen, um es zu trösten und ihm ihre Zuwendung, aber auch ihre Konsequenz zu zeigen. Andere Hintergründe der Schlafstörungen als die unangebrachte Gewohnheit und unzureichende Rituale werden nicht ausführlicher besprochen. Da das Kind nur auf sein Verhalten hin betrachtet wird, ist meines Erachtens diese Therapie nicht geeignet, tiefer liegende Ursachen auszuheilen. Dies erklärt auch, weshalb in vielen Fällen die Schlaftherapie tatsächlich nicht ausreicht, das Problem zu beseitigen. Denn hier wird das Symptom behandelt und nicht die Ursache. Oftmals kommt es sogar zu einer Symptomverlagerung, weil das Kind jetzt ein anderes Ventil für seine innere Unruhe benötigt. Beruht die Schlafstörung allerdings tatsächlich nur auf einer unguten Angewohnheit und auf der verändert vorgefundenen Umgebung beim nächtlichen Aufwachen, so hat die Schlaftherapie innerhalb weniger Tage gute Erfolge zu verzeichnen. So ist auch die unterschiedliche Bewertung der Eltern zu verstehen, die von „total begeistert“ bis „tief geschockt über die Reaktion des Kindes“ variiert. Kritische Anmerkungen zur Schlaftherapie Allerdings findet die „Schlaftherapie“ auch bei einem Gelingen nicht meine Zustimmung, da nach meiner Erfahrung wesentlich tiefere Gründe vorliegen, wenn ein Kind nicht schlafen kann. Die verändert vorgefundene Umgebung beim nächtlichen Aufwachen ist meines Erachtens nur ein unerheblicher Teilbereich. Entweder sind die Ursachen im individuellen Bereich zu suchen – dann benötigt die Familie weiterführende Betreuung – oder es hat sich eine Störung durch die „moderne“ gesellschaftlich verbreitete Haltlosigkeit entwickelt, dann müsste diese verändert werden. Weder im ersten noch im zweiten Falle geht die Schlaftherapie auf die inneren Nöte des Kindes und die eigentliche Ursache der Störung ein. Das Kind kann seine Eltern nicht spüren, wenn diese – wie empfohlen – den Raum verlassen, um in mehrminütigen Abständen zurückzukehren, um es zu streicheln. Bitte stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie entsetzliche Sorgen oder einen tiefen Kummer haben und dies dringend und verzweifelt Ihrem Partner mitteilen wollen. Ihre Tränen fließen, Sie sind erschüttert. Und Ihr lieber Partner kommt alle drei Minuten zu Ihnen, streichelt Ihnen liebevoll über die Wange und teilt Ihnen freundlich mit, dass er doch da sei. Könnten Sie sich da getröstet oder in Ihrem Leid verstanden fühlen? Ein weinendes Kind braucht zum Trost innigen Körperkontakt, weil es den Trost sonst gar nicht empfinden kann. Hiermit ist nicht das sanfte Streicheln über den Kopf gemeint, sondern das Fest-in-den-Arm-nehmen und das innige Ans-Herz-drücken. In diesem Alter kann das Kind den Trost nur so aufnehmen. Je fester, lang anhaltender und großflächiger der Körperkontakt ist, desto stärker wird er als Trost empfunden. Dieser echte Trost darf nicht mit dem heute üblichen „Beruhigen“ verwechselt werden, denn beim Beruhigen versuchen die Eltern, ihr Kind wieder mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ruhig zu bekommen, während es sich beim Trösten erst einmal von Herzen laut und heftig ausweinen darf. Das Kind hat ein Recht auf seine Gefühle. Diesen notwendigen Trost bekommt das Kind bei der herkömmlichen Verfahrensweise der Schlaftherapie nicht. Es muss, obwohl sich die Eltern ihm immer wieder einmal kurz zuwenden, mit seinem Schmerz über die schwere Geburt, die frühe Trennung, die heftigen Nebenwirkungen der Impfung oder mit seiner als Chaos empfundenen Haltlosigkeit alleine zurechtkommen. Manche Babys schaffen das, andere stehen nach der Anwendung der Schlaftherapie unter einem psychischen Schock.


Schreienlassen wieder „in“ ?
Sowohl das Schreien lassen in unserer Vergangenheit als auch das Weinen lassen in der verhaltenstherapeutischen „Auszeit“ findet immer unter momentaner Isolierung des Kindes statt. Dies führt nicht zur emotionalen Entlastung des Kindes, sondern kann zusätzlichen Kummer über das Alleinsein, Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle auslösen. Das gilt auch für das pädagogisch empfohlene Ausgrenzen bei späterem unerwünschtem Verhalten. Da stellt sich die Frage, weshalb die Groß- und Urgroßeltern keine „bleibenden Schäden“ in Form von Lebensuntüchtigkeit davongetragen haben, denn in diesen Generationen mussten leider notgedrungen alle Babys bis zum Durchschlafen durchschreien. Das war damals so Sitte. Wenn Sie sich aber noch einmal die Lebensbedingungen der damaligen Kinder vor Augen führen, wird klar, dass sie in ein enorm starkes Sicherheitsnetz von Regeln, Geboten, Verboten, Rhythmus und Autorität eingebunden waren. Dies stärkte die Kinder so nachhaltig, dass sie die unangenehmen und schmerzhaften Seiten des Lebens besser verkraften konnten. Ich werde das „Schreien lassen“ – das alleine-schreien-lassen – nicht propagieren. Auch nicht, wenn es in versteckter Form heute als therapeutische oder erzieherische Maßnahme empfohlen wird. Und erst recht nicht, wenn zudem das sichere Netz fehlt und die Kinder allein an der Haltlosigkeit schon schwer zu tragen haben. Die während der Schlaftherapie empfohlene „Abwesenheit“ der Eltern hat einen weiteren bedenklichen Aspekt. Wenn sich die Schlafstörung durch das Fehlen der führenden und haltenden Autorität entwickelt hat, dann besteht für das Kind ein enormes Defizit an Halt und elterlicher Führung. Und nun muss es erleben, dass ihm noch der Rest an Halt genommen wird, wenn die Eltern den Raum verlassen und es als Leidtragender die Auswirkungen der elterlichen Orientierungslosigkeit allein tragen muss, während die „Verursacher“ nicht anwesend sind. Übernehmen dagegen die Eltern nun die Verantwortung für die Situation und stellen sich dem Problem und seinen Ursachen, dann können sie gemeinsam mit dem Kind die Wende herbeiführen. Sie können ihre liebevolle, haltgebende Autorität zeigen und gleichzeitig durch echten Trost und liebevolles Wahrnehmen des berechtigten Schmerzes dem Kind über die vergangene Haltlosigkeit hinweg helfen. So haben die Eltern die wertvolle Möglichkeit, in ihrer Kompetenz zu wachsen. Das Kind aber fühlt sich verstanden und bekommt nun endlich, was es wirklich braucht.
Ein kleines Baby hat noch keine Wünsche. Jede Äußerung signalisiert ein absolut „echtes“ Bedürfnis und dieses muss möglichst bald befriedigt werden, damit Vertrauen und Stärke in ihm entstehen kann.



Weiterführende Literatur
Jedes Kind kann schlafen lernen I Kast-Zahn A., Morgenroth H. I O&P
Schlaf, Kindlein, verflixt noch mal! I Prekop J. I Kösel
Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen I Prekop J., Schweizer C. I Kösel
Die Gesellschaft verstößt ihre Kinder I Anderup C. I Kabel
Sorgende Mütter – nervende Kinder I Hannig B. I www.brigitte-hannig.de
Warum Babys weinen I Solter A. I Kösel
Wüten, toben, traurig sein I Solter A. I Kösel
Wut, Geschrei und Tränen I Hannig B. I www.brigitte-hannig.de
Dies ist ein zusammenfassender Auszug aus dem EIternbrief 4 „Unruhige Kinder – schlaflose Nächte“ über die
Schlafstörungen bei Babys und Kleinkindern. Alle Elternbriefe sind nur über die Verfasserin zu beziehen.
Siehe www.brigitte-hannig.de ( ... mein Verlag)

Dieser Artikel wurde 2012 in geringem Maße von der Verfasserin überarbeitet. Alle Rechte am Text bleiben bei der Verfasserin. Dieser Artikel darf – auch auszugsweise – nur im Zusammenhang und mit Benennung der Urheberquelle zitiert oder verwendet werden. Vielen Dank. BeziehungsWeise – Seminare I www.brigitte-hannig.de

Brigitte Hanning ist seit mehr als 20 Jahren als freiberufliche Hebamme tätig. Als Früherziehungsberaterin und Festhaltetherapeutin arbeitet sie in eigener Praxis. Gerne möchte ich euch diese Broschüre nicht vorenthalten.


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Brigitte Hannig
Hebamme, Früherziehungsberaterin und Festhaltetherapeutin
Beratungspraxis für frühe Probleme
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Die veränderte Elternschaft

Die Familienhierarchie - in der jedes Familienmitglied seinen angestammten Platz hatte - und die Familienstruktur lösten sich auf. Die Partnerschaftlichkeit zwischen Eltern und Kindern wurde als ein Ideal propagiert. Nun fragten Eltern die Kinder nach ihren Wünschen und ließen sie mitentscheiden. Dadurch, dass Kinder jetzt gleichberechtigte Partner waren, verloren sie automatisch den Halt und den Schutz. Denn nun mussten sie Entscheidungen treffen und mitdenken, statt sich – im Urvertrauen, dass die Eltern es schon richtig machen – anlehnen zu können. Eine ungeheure Schwerarbeit für ein Kind, welches noch nicht die Lebensreife hat, eine Entscheidung auf ihr Für und Wider zu überprüfen. Die ureigene elterliche Aufgabe, zu erkennen, was richtig und was falsch ist, wurde nun auf das Kind übertragen und überfordert es seitdem hoffnungslos. Diese so genannte freilassende Erziehung beinhaltet auch ein Leben fast ohne Grenzen und Rhythmus vom ersten Lebenstag an. Das Baby soll entscheiden, wann es wieder an die Brust will oder wann wieder Schlafenszeit ist, ob es lieber auf den Arm möchte oder lieber auf die Krabbeldecke. Es werden ihm keine Vorgaben gemacht, denn es soll sich „frei“ entwickeln. Für ein kleines Kind, welches das Leben in der großen Welt noch als unbekannt empfindet, bedeutet dies vor allem eine große Orientierungslosigkeit. Es ist mit dem Vertrauen zur Welt gekommen, dass die Eltern ihm den Weg zeigen, und nun muss es selber wissen und entscheiden, was es noch nicht wissen und entscheiden kann. Diese Überforderung löst ungeheuren Stress bei den Kindern aus, mit allen dazugehörigen psychosomatischen Symptomen und Beschwerden.


Das Kind im Mittelpunkt
Bedingt durch die geringe Kinderzahl einer heutigen Familie und das (gewollte) Verschwinden der Familienhierarchie hat auch eine Veränderung der Stellung des Kindes stattgefunden. Jahrtausende lang waren die Eltern der Mittelpunkt der Familie. Nun steht aus hochidealisierten Gründen das (Wunsch)Kind im Mittelpunkt und oftmals verwenden die Eltern weitaus mehr Aufmerksamkeit auf das Gedeihen des Kindes als auf das der Paarbeziehung. Das hat fatale Folgen, denn in dem Maße, in dem das Kind so überbetreut wird, verkümmert die Beziehung und damit die Grundlage der Familie. Nach den Gesetzmäßigkeiten der systemischen Familienordnung hat jedes Mitglied seinen angeborenen Platz innerhalb der Familie oder des Systems. Demnach gehört ein Kind – sinnbildlich gesehen – allenfalls neben die Eltern, aber niemals in den Mittelpunkt. Dieser Platz macht krank, weil es der falsche Platz ist. So wie eine Zimmerpflanze, die – obwohl mit Liebe gewässert und gedüngt – auch nicht gedeiht, wenn sie am falschen Platz steht. Ein überbetreutes Kind muss – wie auch ein vernachlässigtes Kind – Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, weil das Maß der Zuwendung nicht stimmt. Durch das übergroße Maß an Zuwendung und die idealisierte Idee der konsequenten Frustvermeidung werden den Kindern fast alle Wünsche erfüllt, wodurch sie allerdings die Möglichkeit verlieren, Frusttoleranz und Konfliktfähigkeit zu entwickeln. Und das ist, obwohl gut gemeint, eine erhebliche Behinderung ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Durch psychologische Verallgemeinerungen (z.B. konsequente Frustvermeidung für seelisches Wohlbefinden) und das unreflektierte Streben nach Erziehungsidealen (z.B. freie Persönlichkeitsentwicklung, Durchsetzungsvermögen, starker Wille) sind weitere Gründe hinzugekommen, weshalb Eltern heute so unsicher sind. Es ist ihnen nicht bewusst, dass die Kinder vom ersten Tag an der Führung durch eine liebevolle Autorität bedürfen, damit diese durchaus erstrebenswerten Erziehungsziele auch erreicht werden können.


Reizüberflutung
Zu den bisher genannten Veränderungen, die schon vollkommen ausreichen, einem Kind die Sicherheit und damit den Schlaf zu rauben, kommen noch weitere, entwicklungsgeschichtlich absolut neue Phänomene. Dies sind die Mobilität, die permanente Reizüberflutung und die frühe Intellektualisierung. Während noch vor Jahrzehnten, bedingt durch die damalige Lebensart, ein Baby in Beschaulichkeit heranwachsen konnte, wird es heute schon im Alter von einer Woche mit in den Supermarkt genommen, fährt mit sechs Wochen in den Urlaub und erlebt täglich Hunderte von wechselnden und unbekannten Eindrücken. Dazu kommt noch die (gewollte) frühe Förderung der Sinneswahrnehmung in den Babykursen, welche ebenfalls eine vollkommen unnatürliche Überforderung der Sinne darstellt. Kein Volk der Welt hat je seine Säuglinge bespielt. Alle Kinder durften einfach nur in Ruhe dabei sein, sie durften zuschauen, was die Eltern und Geschwister taten, um später, wenn die Zeit gekommen war, im Spiel das Gleiche zu tun. Die haltlose Gesellschaft Diese beschriebenen massiven Veränderungen haben zu einer Entwurzelung und inneren Haltlosigkeit der Familien geführt und setzen, wie es Catharina Aanderud beschreibt, die Zukunft der Kinder aufs Spiel. Ein schwerwiegender, aber kaum beachteter Grund ist in der Unverbindlichkeit gegenüber den höheren geistigen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Je zivilisierter ein Volk ist, desto weniger sind die geistigen Gesetzmäßigkeiten bekannt, nach denen der Mensch, die Welt und das Universum geordnet sind. Diese Gesetzmäßigkeiten nicht (mehr) zu kennen, heißt aber nicht, dass sie nicht wirken. Sie wirken immer, unabhängig vom Bewusstseinszustand des Betrachters. Und da, wo der Mensch sich (aus Unwissenheit oder Ignoranz) gegen diese ewig gültigen geistigen Gesetze wendet, entsteht Unordnung und Zerstörung. Eines dieser höheren Gesetze besagt, dass die Kinder ihren Eltern folgen und nicht umgekehrt, dass Eltern ihren Kindern solange vorausgehen und ihnen äußeres und inneres Wachstum ermöglichen, bis diese die volle Verantwortung für sich selber übernehmen können. Ein weiteres Gesetz ist die Lehre vom rechten Maß und vom rechten Zeitpunkt, welche ebenfalls nicht ohne negative Auswirkung auf die Kinder ignoriert werden kann. Mangel an Sicherheit Durch diese Ausführungen wird deutlich, in welch erschreckendem Ausmaß sich die Welt für die Kinder verändert hat. Sie werden, obwohl innig geliebt und mit Zuwendung überschüttet, ihrer Sicherheit beraubt. Das Kind erwartet – in seinen Erbsubstanzen mit Jahrtausende altem und intuitivem Wissen über diese Gesetzmäßigkeiten ausgerüstet – eine Erfüllung seiner Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Führung durch die Eltern. Nun muss es erleben, wie schon in seiner frühesten Lebenszeit dieser Schutz bröckelt, wie es vom ersten Tag an auf Führung und Orientierung verzichten und statt dessen selber sagen muss, was es denn möchte. Dies ist vollkommen gegen die Natur des Kindes, und es muss einen hohen Preis für diese von ihm noch nicht gewollte „Freiheit“ zahlen. Die Schlafstörung ist neben der steigenden Unzufriedenheit, der verstärkten Unruhe, den „unerklärlichen“ Schrei- und Wutattacken, der Spiel- und Essunlust und der weit verbreiteten frühkindlichen Aggressivität nur eine der Auswirkungen. Dieser Mangel an Sicherheit, der durch den Verlust der elterlichen Führung entsteht, löst in dem Kind eine Orientierungslosigkeit aus, die sein Urvertrauen verletzt und damit die Beziehung zwischen Eltern und Kind erheblich belastet.
Liebe Eltern
Das Haltgeben als Lebensform:
Halt und Geborgenheit. Aus der Festhaltetherapie nach Dr. Jirina Prekop, mit deren Hilfe emotional in Not geratene Kinder und ihre Eltern wieder zu einer stabilen und liebevollen Beziehung finden können, hat sich das Halten und Haltgeben als Lebensform entwickelt. In diesem Haltgeben werden die elementaren Bedürfnisse des Kindes nach körperlichem, seelischem und geistigem Halt anerkannt und genährt. Die ethische Grundlage dieser inneren Haltung ist die uneingeschränkte Achtung vor der Person des Kindes und seinen Empfindungen.

Halt für den Körper:
Wie Sie ja wissen, ist das Bedürfnis nach Körperkontakt, nach Berührtwerden, elementar. Nun ist mit diesem Körperkontakt aber nicht nur das zärtliche Streicheln gemeint, sondern ein Berührtwerden am ganzen Körper, in fester und inniger Umarmung, die die Sicherheit gibt, dass sie "nie endet". Der großflächige, langanhaltende, nicht wechselnde, deutlich spürbare umarmende Druck, den das Kind am ganzen Körper fühlen kann, vermittelt ihm in emotionellen Krisen ein Höchstmaß an Geborgenheit. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Baby sofort ruhig wird, wenn Eltern es in dieser Art im Arm halten. Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall.
Denn in dieser innigen Umarmung, in diesem sicheren Halt ist es dem Baby überhaupt erst möglich, seinen Tränen in befreiender Weise freien Lauf zu lassen. Erst jetzt ist es möglich, auch die ungeweinten Tränen der vergangenen Wochen fließen zu lassen, weil nun der Raum dafür da ist. Jetzt erst spürt das Baby seine gesamte Verzweiflung, die wirkliche Tiefe seiner Angst. Erst jetzt kann es zulassen, was bisher unterschwellig in ihm schwelte. Nun kann es sich endlich im Arm der Eltern ausweinen, es wird sicher gehalten und spürt die Eltern mit seinem größten Wahrnehmungsorgan, mit seinem ganzen Körper. Ein Grundbedürfnis wird befriedigt. Welche Wohl tat für das Baby.

Halt für die Seele:
Im Gehaltenwerden spürt das Kind die Sicherheit, die es für seine stabile seelische Entwicklung benötigt. Nun werden keine Ablenkungsversuche mehr gemacht, die es irritieren könnten; es wird verstanden und in seiner emotionalen Befindlichkeit geachtet. Das Baby lernt von Anfang an mit Hilfe der Eltern, sich seinen Gefühlen und den schmerzhaften Seiten des Lebens zu stellen. Dadurch entwickelt es innere Stärke und Kompetenz zur Krisenbewältigung und ein unerschütterliches Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Gleichzeitig wächst auch das Vertrauen in die Eltern, die ihm so bei der Krisenbewältigung helfen. Das Baby fühlt sich sicher und gut verstanden, eine starke Bindung an die Eltern - die stabilste Grundlage für seine zukünftige Entwicklung - ist die Folge.

Stärkung der Persönlichkeit:
Das neu geborene Baby - welches vom Beginn seines Dasein an den starken Impuls zur Persönlichkeitsentwicklung in sich veranlagt hat - bekommt im Halten eine sichere "Starthilfe". Nicht nur, weil sein Grundbedürfnis nach Berührtwerden am ganzen Körper befriedigt wird und es in der liebevollen Umarmung in Krisensituationen seine Sehnsucht nach emotionaler Nähe und Tiefe der Beziehung erfüllt bekommt. Auch für den geistigen Teil seiner Persönlichkeit, der Individualität - die sich in seinem Wesen, seinem Charakter, seinen Tugenden und Schwächen, seiner gesamten Persönlichkeitsstruktur ausdrückt - bekommt das Baby nun, was es braucht. (Dieser geistige Teil in uns ist nicht die Intelligenz, wie oft irrtümlich angenommen, sondern das Einmalige in jedem Menschen, dieser Teil in uns, zu dem wir ICH sagen.) Der Mensch als körperlich-seelisch-geistiges Wesen braucht eben zum Heranreifen auch geistige Nahrung. Denn sein Ich will wachsen und sich entwickeln, und dazu bedarf es unteranderem des sicheren Haltes durch die Eltern und der Auseinandersetzung mit den schwierigen Seiten des Lebens. Das kleine Kind benötigt - um sich in der eigenen Person deutlich wahrzunehmen - die deutliche Wahrnehmung der ihn umgebenden und betreuenden Personen. Je eindeutiger, sicherer und führender also ein Elternpaar ist, desto intensiver kann das Baby diese auch wahrnehmen und so daran wachsen.
In diesem sicheren Halt, den Kinder in ihrer emotionellen Not erfahren, wenn sie sich im Arm der Eltern ausweinen dürfen, wenn sie spüren, dass diese mit ihnen durch die Krise gehen, statt ihnen mit Ablenkungen das Leben zu "erleichtern", sind Eltern für ihre Kinder deutlich und eindeutig wahrnehmbar. Sie bieten somit ein Höchstmaß an Halt, emotionaler Sicherheit und - durch die Auseinandersetzung mit der Krise - die Grundlage für Persönlichkeitswachstum. Diese Kinder sind sehr zufrieden und entwickeln Freude und Stärke für die Zukunft.


Die praktische Durchführung
Was können Eltern tun? Wenn Sie sich also in der misslichen Lage befinden, dass Ihr Baby viel weint und Sie bisher noch kein wirksames "Gegenmittel" gefunden haben, wollen Sie sicher auch neue Wege beschreiten, um (wieder) zu einem ausgewogenen Miteinander zu finden. Dazu ist es sinnvoll, sich über das bisher Gelesene vertiefende Gedanken zu machen, auf die innere Stimme zu horchen ("Kann ich mir das mit meinem Baby vorstellen ...?") und sich mit dem anderen Elternteil auszutauschen. Denn gerade am Anfang brauchen Sie die Unterstützung Ihrer Partnerin bzw. Ihres Partners, um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie seit Tagen, Wochen oder Monaten "die Nerven blank" haben und auf den gereizten und beziehungsbelastenden Kommentar "Jetzt gib ihm doch endlich den Schnuller!" gerne verzichten möchten. Das Ausweinenlassen sollte also im Einverständnis beider Eltern - die einander unterstützen - stattfinden. Ausnahmen sind natürlich immer möglich, z.B. bei Allein erziehenden oder wenn der Vater in einer klaren Absprache "den Erziehungskram" der Mutter überlässt.

Der praktische Ablauf:
Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, setzen Sie sich bequem in eine gemütliche Ecke (alle möglichen Störfaktoren wie Telefon, Klingel, Zeitknappheit usw. sind ausgeschaltet). Schön ist es, wenn der Partner sich mit einem Kissen an die Wand setzt und seine Partnerin in seinen Schoß nimmt. Sie kann sich gut bei ihm anlehnen und sich dort die nötige "Rückenstärkung" holen. Vielleicht ergibt es sich, dass Ihre Hebamme anwesend ist, um Sie zu unterstützen, Ihr Baby zu halten. Wichtig ist, dass Sie sich sammeln und etwa durch tiefe, bewusste Atemzüge den eigenen Mittelpunkt suchen. Dort finden Sie den Mut, mit Ihrem Kind durch die Krise zu gehen und können nun Abschied nehmen von dem beunruhigenden Gedanken, Sie wären durch Ihre Inkompetenz "schuld" an den Tränen des Kindes. Sie nehmen Ihr Baby entweder liegend in den Arm, sodass es wie beim Stillen Ihnen mit dem ganzen Körper zugewandt ist oder halten es "Bauch auf Bauch" an Ihren Körper. Spätestens jetzt lösen sich beim Kind schon die ersten Tränen. Es ist einen Moment lang irritiert, weil es die neue Situation nicht einschätzen kann und die bekannten Ablenkungen vermisst. Sie nehmen Ihr Baby mit festem Halt an Ihr Herz und sorgen dafür, dass weder das Köpfchen hin und her wackelt noch mit Anstrengung aufrecht gehalten werden muss. Das Köpfchen muss aufliegen, denn damit gibt das Kind die Verantwortung ab, es gibt sich - anfangs noch mit seelischen Schmerzen - ganz in die fürsorglichen Hände seiner Eltern. Die Ärmchen packen Sie so mit in Ihre haltende Umarmung, dass sie nicht frei herumrudern können, denn sonst würde das Kind sich im Zappeln verlieren und zerstreuen. Auch hier kann Ihnen Ihre Hebamme behilflich sein. Nur wenn Ärmchen und Beinchen mit gehalten werden, empfindet das Baby Geborgenheit rundum. Falls Sie das Gefühl haben, dass Sie zwei Hände zu wenig besitzen, können Sie sich auch so hinsetzen, dass die Beine des Kindes, z.B. von der gepolsterten Armlehne, gestützt werden. Gerade die Babys mit Bauchschmerzen wollen gerne ihre Beinchen fest gegenstemmen, um sich zu entlasten. Während dieser wenigen Minuten hat das Baby seine Schleusen schon weit geöffnet und weint seinen Kummer und seine Tränen lautstark und verzweifelt hinaus. Je lauter und jämmerlicher es weint, desto mehr erwacht in Ihnen Ihr elterlicher beschützender Instinkt, und Sie drücken es immer inniger an sich. Nur so ist der Kummer zu ertragen.

Auch die Eltern haben Kummer:
Oft sind dabei die Eltern ebenfalls den Tränen nahe. Denn auch sie haben in den vergangenen Wochen gelitten. Sie sind bestürzt darüber, dass ein Baby so viel Kummer haben kann, sie begreifen vielleicht jetzt erst das Ausmaß des Geschehens bei der Geburt, sie trauern mit ihrem Kind über die nicht gewollte Trennung, die zu frühe Geburt und die eventuell notwendigen, aber dennoch schmerzhaften medizinischen Maßnahmen. Sie merken vielleicht jetzt erst den gesamten Druck der psychischen Belastung, den das Zusammenleben mit dem Baby bisher mit sich brachte. In Ihrer Hebamme finden Sie eine aufmerksame Zuhörerin, denn auch die Tränen der Eltern sind willkommen.
Meine Beobachtung ist immer wieder, dass die Babys umso besser in die Erleichterung kommen, je eher auch die Mama entspannt. Und das geht nun einmal mit Tränen am besten. Sie brauchen also nicht tapfer zu sein. Es ist keine Schwäche, zu weinen. Im Gegenteil, es ist mutig, sich seinen Gefühlen zu stellen. Es tut allen Kindern gut, die Eltern so authentisch und ehrlich zu erleben.
Was empfindet das Baby dabei?
Wenn Sie nun so mit Ihrem Baby sitzen und es ohne ablenkende Aktivitäten im Arm halten, wird sein Weinen innerhalb von Sekunden oder Minuten sehr heftig. Dies mag Sie im ersten Moment erschrecken, es spricht aber nur dafür, dass Ihr Kind jetzt die Gelegenheit nutzt, sich richtig heftig auszuweinen. Oftmals kommen "uralte" Kümmernisse mit ans Tageslicht. Je mehr sich Ihr Baby in sein Weinen "hineinsteigert", je kraftvoller es seine Not ausdrückt, desto schneller ist die Situation auch wieder beendet. Denn die Babys weinen wirklich nur so lange, wie sie ihren Kummer im Herzen spüren. Vom einfachen Unwohlsein, einer Irritation, einem "ganz normalen Babykummer" kann sich sein Weinen innerhalb kürzester Zeit schon bis zu einem lauten Protestgeschrei steigern. Dies erleben alle Eltern mehrmals täglich. Kommt das Baby im Halten aber seinem tiefer sitzendem Urkummer näher, wird es sich bei dieser Aufarbeitung noch einmal so wütend, überfordert oder verletzt fühlen, wie in der damaligen Situation. Jetzt kann es seine Gefühle herauslassen. Es fühlt sich genauso ohnmächtig oder verlassen wie damals, und kann nun den Eltern seinen Schmerz mitteilen. Um diese tief sitzenden Schrecken aus der Vergangenheit endlich zu verarbeiten, braucht das Kind jetzt den sicheren Halt im Arm der Eltern und die uneingeschränkte Erlaubnis zu Weinen. Hat das Baby den Höhepunkt erreicht, fällt die Kurve wie beim Wehenschreiber wieder nach unten, auch hier in individueller Art. Meistens hat die abklingende Seite der Kurve keinen glatten Verlauf, sondern einige weitere, kleinere Ausschläge. Es ist dann zu beobachten, dass das Baby jetzt gerne schon entspannen möchte, aber durch die wiederholte Erinnerung an den Kummer immer wieder erneut aufweinen muss. In diese Phase gehört auch die tiefe Trauer, die das Kind über den schweren Lebensstart empfindet. Für die begleitenden Eltern ist es wichtig zu wissen, dass ihr Baby nicht unbedingt schlimme Erlebnisse haben musste, um derart zu trauern. Manche Kinder trauern auch darüber, dass sie das "Paradies" verlassen mussten und "vom Himmel auf die Erde" kamen (dies sagt nichts darüber aus, wie wohl sich ein Kind bei seinen Eltern fühlt, sondern wie schön es vorher war).
Das Baby im Arm taucht immer wieder in die traurigmachende Erinnerung ein, bis dieses Gefühl nach und nach abflacht und mehr und mehr der Entspannung weicht.

Der Kummer verschwindet:
Der unruhige Zustand des Babys hat sich erheblich verändert. Es liegt jetzt ganz dicht an Mama oder Papa geschmiegt. Die Steifheit, das Durchbiegen, seine Abwehr haben sich aufgelöst. Es wird immer entspannter, schluchzt noch hin und wieder auf. Oftmals schlafen die Kinder dann ein oder haben - manchmal zum ersten Mal - intensiven Blickkontakt mit den Eltern. Irrtümlich wird oft angenommen, das Baby schlafe vor Erschöpfung ein, dabei ist es die Entspannung, die es so schön zur Ruhe kommen lässt.
Die Eltern, die so mutig diesen Weg mit dem Kind gegangen sind, werden durch den intensiven Kontakt zu ihm reichlich belohnt. Vielleicht ist es das erste Mal, dass Sie Ihr Baby so innig im Arm halten, ohne dass es Sie abwehrt oder sich wegdreht. Sie haben das Gefühl, ihm richtig nahe zu sein, seinen Blick erwidern zu können und seine Botschaft zu verstehen. Der trennende Schmerz ist aufgelöst und die Liebe kann ungehindert fließen. Auf diesen Augenblick haben Sie so lange gewartet.

Einige Bedenken:
Hier möchte ich noch einige Fragen ansprechen, die Eltern im Zusammenhang mit dem Halten immer wieder haben. Den meisten Eltern ist der Gedanke äußerst unangenehm, ihr Baby auch dann fest an sich zu drücken, wenn "es sich doch so wehrt". Sie vermuten dann, dass ihr Baby diese haltende Umarmung nicht möchte und haben große Hemmungen, sich ihrem Kind "aufzudrängen" und damit seine eigene Entscheidungsfreiheit zu missachten. Hier müssen wir uns noch einmal in die Gefühlswelt der kleinen Kinder versetzen. Das Baby hat aus seiner Sicht Schlimmes erlebt und versuchte bisher mit den ihm zu Verfügung stehenden Mitteln, damit zurecht zu kommen. Dies gelang mehr schlecht als recht. Durch die haltende Umarmung wird ihm sein Schmerz so richtig bewusst, es spürt seine Defizite, die Verzweiflung, die die Trennung auslöste usw. Die Gefühle kommen mit einer solchen Macht an die Oberfläche, dass der ganze Körper davon ergriffen wird. Das Baby stemmt sich gegen die Mama, will sich nach hinten werfen, dreht den Kopf weg usw., weil die Not so groß ist, und nicht weil das Baby sich "gegen die Mama wehrt". Das Kind braucht in den Momenten seiner großen Not dringend den Halt im Arm der Eltern, um sich von den belastenden Gefühlen befreien zu können.
Der Mensch ist biologisch so veranlagt, dass er sich bei Kummer und seelischem Schmerz in sich zurückzieht und in Vermeidungsmechanismen flüchtet.
Dabei bleibt er innerlich einsam. Um das Kind nicht in diese Einsamkeit flüchten zu lassen, können Eltern aus Einsicht und Liebe zum Kind auch "gegen seinen Willen" (der ja hier im genaueren Sinne ein Fluchtinstinkt ist) ihr Baby halten. Denn nur im tiefen Kontakt mit den Eltern bekommt das Kind die wichtigen Vorraussetzungen für seine Zukunft, niemals aber im "Alleingang".
Eine weitere Sorge der Eltern ist die Vermutung, dass ihr Baby nur deshalb so jämmerlich weint, weil sie es halten. Sie befürchten dann, die dichte Umarmung wäre dem Kind unangenehm und der Anlass seiner Tränen. "Wenn ich ihn loslasse oder aufrecht nehme, ist er sofort wieder ruhig" ist dann das Argument. Natürlich ist das Baby im ersten Moment wieder ruhig, weil es sich eventuell neu orientieren muss, oder weil es wieder auf Abstand zu seinen Gefühlen geht. Außerdem ist der Raum, wo Tränen ungehindert fließen können, dann nicht mehr vorhanden. Also hört es auf zu weinen. Allerdings nur, um dann im weiteren Tagesverlauf immer weiter zu nörgeln, zu weinen und Unzufriedenheit zu zeigen.
Wenn ein Baby beim Halten voller Verzweiflung weint, dann weint es, weil es wirklich verzweifelt war oder ist, und nicht, weil es im Arm gehalten wird. Denn das ist ja nichts Bedrohliches, sondern etwas, was sich jeder Mensch im Grunde seines Herzens
ersehnt. Beim Halten kommen also nur die vorher nicht geweinten Tränen zum Vorschein.
So brauchen Sie sich also keine Sorgen zu machen, Ihr Baby würde weinen, weil Sie es halten. Nein, es hat genügend andere Gründe. Und wenn alle Tränen ausgeweint sind, ist Ihr Kind sehr dankbar, dass Sie ihm so tatkräftig geholfen haben.

Der Unterschied zwischen Beruhigung und Trost:
Das Kind hat ein Recht auf seine Tränen. Wenn wir uns klar machen, dass das Baby mit seinem Weinen auf etwas Wichtiges in seinem Erleben und auf starke Empfindungen hinweisen möchte, dann können wir uns vorstellen, dass es jemanden braucht, der ihm zuhört. Wirklich zuhört. Es ist zwar üblich, dass Eltern sich dem Kind sofort zuwenden, wenn es sich mit Weinen mitteilen möchte, aber genauso üblich ist es, ihm sofort etwas in den Mund zu stecken, damit es nicht mehr weinen muss oder kann. Was soll das Baby davon halten? Es spürt zwar die liebevollen Bemühungen seiner Eltern, kann aber sicher nicht begreifen, warum es nichts sagen darf. Dies kann tiefe Irritation bei dem kleinen Kind auslösen. Wieso soll es wieder ruhig sein, wenn es doch erzählen möchte, dass ihm die große Welt noch Angst macht. Wieso soll es trinken, wenn es sich überfordert fühlt? Wieso muss es sich die Spieluhr zum fünften Male anhören, wenn ihm der Kopf noch schwirrt vom täglichen Einkaufsstress? Mit jedem weiteren Versuch, das Kind "zu beruhigen", kann seine Irritation wachsen. Mit jedem runtergeschluckten Gefühl werden seine "Koliken" stärker. Mit jedem liebevollen "Du brauchst doch nicht zu weinen, mein Schatz" fällt es tiefer in die Orientierungslosigkeit, weil es nicht unterscheiden kann, ob jetzt die Mama Recht hat oder das eigene Gefühl, die Angst vor dem Unbekannten im Leben.

Beruhigungsmaßnahmen irritieren:
Beruhigungsmaßnahmen machen natürlich auch ruhig, aber leider nur für kurze Momente. Sie führen nicht zu einer tiefen Befriedigung des Kindes, weil sie an der Oberfläche bleiben und die tieferen Ursachen nicht berücksichtigen.
Wie ja schon das Wort "beruhigen" sagt, soll hier der Versuch unternommen werden, das Baby "ruhig" zu machen. Das Ziel der Maßnahme ist also die Ruhe und die da hinein interpretierte Zufriedenheit des Kindes.
Die tatsächliche Ursache des Weinens wird bei der Beruhigung nicht berücksichtigt. Was das Kind auf dem Herzen hat, kann von ihm nicht wirklich "ausgesprochen" werden, weil niemand zuhört.
Dies bedeutet einen zusätzlichen Schmerz, den das Baby wieder mit Weinen ausdrückt. Ein Teufelskreis.
Wir müssen also lernen, dem Baby zuzuhören, um seine Sprache zu verstehen. Und nicht in gesteigerte Aktivität verfallen, um mit allen möglichen Maßnahmen das Kind wieder zu "beruhigen".

Der Unterschied zwischen Beruhigung und Trost:
Während also die Beruhigungsmaßnahme die "Ruhe" zum Ziel hat, spendet der Trost dem Menschen Anteilnahme und Unterstützung in seiner seelischen Not. Beim Trost wird dem Leidenden die ganze Aufmerksamkeit geschenkt, es wird ihm zugehört, Verständnis für seinen Kummer gezeigt. Dabei weiß der Tröstende intuitiv, dass er sein Gegenüber nicht aus seiner misslichen Lage befreien kann, weil er (in der Regel) nicht deren Verursacher ist. Er kann ihm nur beistehen, das Schwere zu ertragen. Trost ist Balsam für die Seele.
Zum Wesen des Tröstens gehört aber auch das Wissen darum, dass jeder Mensch sein eigenes Schicksal hat, das so unabänderlich zu ihm gehört wie sein Geschlecht und die Haar- und Augenfarbe. Wir können niemandem sein Schicksal abnehmen, aber wir können helfend die Hände reichen, um mit Anteilnahme und Trost das Schwere erträglicher zu gestalten.
So kann eine Mutter nichts daran ändern, wenn ihr Baby Angst bei der Geburt hatte, aber sie kann ihr Kind in den Arm nehmen und mit ihm gemeinsam darüber trauern, dass es so schwer war.
Sie sehen also, liebe Eltern, beim Trost geht es darum, Ihr Kind in seinen schmerzhaften Gefühlen zu begleiten, ohne zu versuchen, es von seinem Kummer abzulenken. Praktisch bedeutet dies, dass ich dem Kind Recht gebe mit einem "Ja, ich weiß, Du musst jetzt weinen, das war zu viel für Dich", statt ihm seine Sorgen mit den Worten "Du brauchst doch nicht zu weinen, mein Schatz, das ist doch gar nicht schlimm" auszureden.
Wenn wir also lernen, das Geschrei der kleinen Kinder als Mitteilung zu verstehen, dann können wir auch bestätigend darauf eingehen. (2)

Wie erkennen Eltern die Ursachen der Tränen?
Wenn wir die oben aufgeführten Gründe des Weinens näher betrachten, kann sich gleich der unangenehme Gedanke einstellen: "Du lieber Himmel, woher soll ich denn jedes mal wissen, warum mein Baby jetzt weint". Ganz recht, denn hellsehen können Sie ja nun wirklich nicht. Wenn Sie aber den Grundgedanken - zuhören statt ablenken - verinnerlicht haben, werden Sie bald merken, dass Sie gar nicht immer genau wissen müssen, warum Ihr Baby weint. Das verlangt niemand, auch nicht Ihr bedürftiges Kind. Es verlangt nur, dass Sie zuhören und es durch seinen Kummer begleiten.
Das ist anfangs sicher schwer für Sie. Diese Gedankengänge sind neu für Sie, sie sind in der Gesellschaft nicht bekannt und so haben Sie kaum Gleichgesinnte und Gesprächspartner für diese Ansicht. Deswegen möchte ich dies noch weiter ausführen, um Ihnen bei der neuen Vorgehensweise auch innerlichen Halt zu geben. Wenn das Baby weint, weil ihm die Welt viel zu groß und zu fremd erscheint, dann macht es einen großen Unterschied, ob ihm die Mama den Schnuller in den Mund steckt, oder aber ihm bestätigt: "Ja, ich weiß, du musst jetzt ein bisschen weinen, denn irgendetwas bedrückt dich."
Diese bestätigenden Worte kann die Mutter aussprechen, auch wenn sie nicht weiß, ob ihm die Eindrücke zu viel waren, es einfach nur "Heimweh" nach der alten, bekannten Welt hat oder noch überwältigt ist von der archaischen Kraft des Geburtsgeschehens.

Anerkennen, was ist:
Sie sehen also, Sie müssen den Grund nicht kennen. Sie brauchen nur anzuerkennen, dass es einen Grund gibt, um Ihr Kind begleiten zu können. Wenn Sie darüber hinaus noch wissen, dass Sie (in der Regel) nicht die Verursacher der Tränen sind, können Sie sich gesammelt dem Kind zuwenden. Denn das ständige Suchen nach den vermeintlichen Defiziten des Kindes höhlt die elterliche Kompetenz aus und verursacht Gefühle der Hilflosigkeit. In dem Moment aber, wo Eltern sich hilflos fühlen, bricht automatisch der emotionale Kontakt ab und verlagert sich auf äußerliche (unwichtige) Aktivitäten.


Die Konfliktvermeidung:
Hilfsmittel zur Krisenbewältigung. Wenn wir auf die Tränen unserer Kinder mit ablenkenden Maßnahmen reagieren, bedeutet das auch, dass wir den Konflikten aus dem Weg gehen. Dies ist oft sehr verständlich, denn Babygeschrei wirkt auf uns alle im höchsten Maße beunruhigend und belastend. Und doch lohnt es sich für alle Beteiligten, sich einer solchen Situation zu stellen. Krisen gehören zum Leben wie das Salz zur Suppe. Es gibt keine Möglichkeit, den schmerzhaften Seiten des Daseins zu entgehen. (Im Chinesischen bedeutet das Wort für "Krise" gleichzeitig "Wachstum") Wenn wir in Krisensituationen allerdings fortwährend zu Beruhigungsmitteln greifen, kann das Kind nicht die Fähigkeit entwickeln, Krisen zu überwinden. Stattdessen entwickelt sich eine Abhängigkeit von diesem Mittel. Da sich durch die Vermeidung der schmerzhaften Situation oder der Ablenkung davon keine Frusttoleranz, Belastbarkeit und Konfliktfähigkeit heranbilden kann, bleibt der Mensch auf einer unreifen Entwicklungsstufe stehen. Dies gilt für große wie für kleine Menschen. Auch in der gewiss auftretenden nächsten Krisensituation würde der "Ungeübte" wieder hilflos vor dem Geschehen stehen und sich nicht anders als mit dem gewohnten Beruhigungs - und Ablenkungsmittel zu helfen wissen. Auch ein kleines Baby im Alter von erst einigen Wochen kann schon so sehr auf ein Hilfsmittel fixiert sein, dass es ohne dieses nicht aufhört zu weinen oder endlich einschläft. So entstehen für die Eltern äußerst nervige Angewohnheiten, zum Beispiel ständig im "Fliegergriff" getragen werden zu wollen, nur auf Papas linker Schulter und im dezenten Galopp ruhig zu werden, nur einzuschlafen, wenn Mama monoton mit dem Baby auf dem Gymnastikball wippt, das Kind stündlich anlegt usw. Immer dann, wenn Eltern keine andere Möglichkeit mehr sehen, mit dem Baby in einen harmonischen Zustand zu kommen, können wir annehmen, dass sich das Baby aus lauter Verzweiflung schon auf dieses Hilfsmittel fixiert hat.

Wir sehen also, dass solche Hilfsmittel zur Krisenbewältigung das Baby in seiner Persönlichkeitsentwicklung eher beeinträchtigen, weil es so keine Möglichkeit hat, wichtige Fähigkeiten für seine Zukunft zu entwickeln.
Das wichtigste "Hilfsmittel", sich im Leben geborgen zu fühlen, ein starkes Bewusstsein seiner selbst, sowie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, ist die wohlwollende Anwesenheit der Eltern. Hier darf ein Baby oder Kleinkind "abhängig" sein. Denn in der Verbundenheit zu den Eltern entwickeln sich alle Fähigkeiten, die im Kind veranlagt sind, und die es zur Bewältigung seiner Zukunft benötigt. Und hier ist wirklich "nur" die Anwesenheit der Eltern gemeint und nicht deren Aktivität.
Wenn es dem Baby ermöglicht wird, im Arm der ruhenden Eltern seine kleine oder große Lebenskrise lauthals zu betrauern, dann hat es in diesem Moment alle Möglichkeiten zu erlernen, was für sein Leben wirklich wichtig ist. Und obendrein erlebt es dankbar die sichere und führende Kraft seiner Eltern. Dann fühlt es sich geborgen.
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